Ursula von der Leyen hat die Zustimmung der Staats- und Regierungschefs für ihre Kandidatur als EU-Kommissionspräsidentin erhalten. Nun aber muss sie das Europäische Parlament überzeugen.
Während die nächtliche Abstimmungsphase abgeschlossen ist, bleibt von der Leyen im Wahlkampfmodus, da sie als Nächstes die Zustimmung einer einfachen Mehrheit im Europäischen Parlament benötigt. Die Abstimmung über ihre Nominierung als Kommissionspräsidentin wird voraussichtlich in der ersten Plenarsitzung am 18. Juli erfolgen.
Die Koalition der Mitte, das den Kern der am Donnerstag erzielten Einigung über den EU-Spitzenposten bildet – bestehend aus der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP), den Sozialdemokraten (S&D) und der liberalen Partei Renew Europe – zählt derzeit 399 Abgeordnete.
Dies wäre eine sichere „Basis“ für ihre Bestätigung, sagte von der Leyen gegenüber Reportern nach ihrer Nominierung durch die EU-Chefs. Damit würde sie die 361 Stimmen überschreiten, die sie für eine Ernennung für den Posten benötigt.
Diese Überschlagung könnte jedoch nicht ausreichen, da einige nationale Delegationen innerhalb ihrer „Basis“ zögern, wie etwa die französische Delegation der EVP, Les Républicains.
In der vergangenen Woche hat von der Leyen begonnen, auf das Europäische Parlament zuzugehen und Gespräche mit der Vorsitzenden der Sozialdemokraten, Iratxe García, und der Fraktionsvorsitzenden der liberalen Renew-Fraktion, Valérie Hayer, zu führen. Aber auch mit einzelnen wichtigen EU-Abgeordneten sprach sie bereits, so Personen, die mit der Angelegenheit vertraut sind.
„Ich werde auf andere zugehen“, sagte von der Leyen nach dem EU-Gipfel am Donnerstag (27. Juni) zu Reportern und betonte, dass sie sich nicht nur auf Verhandlungen mit den Sozialdemokraten und den Liberalen konzentrieren werde, sondern auch mit „bestimmten Teilen“ anderer Fraktionen.
„Die Erfahrung zeigt, dass es oft die nationalen Delegationen sind, die die Entscheidung treffen“, sagte sie in Anspielung auf deren unterschiedliche Abstimmungskohärenz.
Von der Leyen bewahrte am Donnerstag eine gesunde Portion Zweideutigkeit und nannte keine Parteien, auf die sie zugehen wollte, sondern nur ihre üblichen drei roten Linien: Sie sollten pro-europäisch, pro-Ukraine und pro-Rechtsstaatlichkeit sein.
Sie sei bereit, mit jedem zu sprechen, der sie einlade, sagte sie, um ihre „politischen Leitlinien“ vorzustellen.
Zweideutigkeit ist der Schlüssel
Von der Leyens Äußerungen deuteten darauf hin, dass sie unabhängig von den Präferenzen der „Koalition der Mitte“ überall im Lande Stimmen sammeln würde.
Eine besonders heikle Frage war, ob die 24 EU-Abgeordneten der Partei von Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, Fratelli d’Italia, von der Leyen ihren Segen geben würden.
Meloni enthielt sich bei der Abstimmung auf dem Gipfel am Donnerstag der Stimme, da sie behauptete, die Namensfindung für die Spitzenposten weise „methodische und inhaltliche Mängel“ auf und prangerte an, dass sie von den Gesprächen ausgeschlossen wurde, obwohl ihre EKR-Fraktion die dritte Kraft im Parlament ist.
Ihre Stimmenthaltung gibt ihr nun die Zeit, sich genau zu überlegen, welche Position sie einnehmen soll, wobei sie darauf setzt, eine strategische Zweideutigkeit beizubehalten, um ihre Interessen am besten durchzusetzen. Meloni hat Berichten zufolge versucht, ein wichtiges Kommissionsressort für ihr Land zu bekommen, wenn sie von der Leyen unterstützt.
Gleichzeitig hat von der Leyen dadurch mehr Zeit, darüber nachzudenken, wie sie die rechtsnationale Fratelli d’Italia erreichen und gleichzeitig ein gutes Verhältnis zu den Sozialisten, Liberalen und Grünen aufrechterhalten kann.
Parteilinien
Die Bestätigung von der Leyens im Europäischen Parlament erfolgt in geheimer Abstimmung, was den Abgeordneten, die von ihrer Fraktionslinie abweichen wollen, helfen könnte.
Nach dem Gipfeltreffen am Donnerstag nannten mehrere EU-Staats- und Regierungschefs verschiedene Parteien als Ansprechpartner.
Die Grünen haben ihre Bereitschaft zu einem Kompromiss erklärt, und ihre Führung wartet auf die Aufnahme offizieller Verhandlungen.
Aber nach dem Gipfel und Melonis Enthaltung ist es unklar, ob die rechtskonservative EKR-Fraktion von der Leyen im Juli ihren Segen geben wird.
Der tschechische Ministerpräsident Petr Fiala sagte am Donnerstagabend vor Reportern, dass seine EKR stärker in den Entscheidungsprozess einbezogen werden sollte.
Er drängte aber auch auf mehr Zusammenarbeit. „Für mich ist es sehr wichtig, dass die EKR und die EVP so eng wie möglich zusammenarbeiten“, sagte er vor Reportern in Brüssel.
Von der Leyen kann nun eine zweideutige Beziehung zu EKR fortsetzen, ohne öffentliche Zusagen zu machen, die es ihr ebenfalls ermöglicht, auf die Grünen zuzugehen. Zur gleichen Zeit kann sie eine gesunde Beziehung zu den Sozialdemokraten und den Liberalen aufrechterhalten, da beide wiederholt erklärt haben, dass sie nicht wollen, dass von der Leyen mit der EKR zusammenarbeitet.
Für Bundeskanzler Olaf Scholz gibt es keine Notwendigkeit, in der harten Rechten zu fischen, da die Stimmen der Grünen „zumindest teilweise erwartet werden“, sagte er Reportern in Brüssel.
„Es wird auch Unterstützung von Kräften geben, die nicht zu [den Sozialdemokraten] gehören […], aber ich bin fest davon überzeugt, dass es gut ist, wenn Parteien, die zu rechtspopulistischen Parteifamilien gehören, nicht die Basis dieser Unterstützung sind“, sagte er.
Der französische Präsident Emmanuel Macron zeigte sich ähnlich optimistisch, dass von der Leyen eine parlamentarische Mehrheit erreichen könnte.
„Ich denke, es gab einen großen Konsens, ich bin sicher, dass ein Weg in der Zukunft gefunden werden wird“, sagte er. „Aber ich respektiere voll und ganz die Position unserer Kollegin Giorgia Meloni, die ein wichtiges Land vertritt und eine Freundin Frankreichs ist.“
[Bearbeitet von Alice Taylor/Kjeld Neubert]
